“alle sind sie versammelt”

22. - 23. april 2023
sich berühren lassen, zürich



transformationen im materiellen wie im geistigen.

zu den keramiken von dario cavadini
von peter fischer



skulptur kann den körper einnehmen – oder ihn beherrschen – und mittels des körpers den geist. es geht um eine form von körperlichem denken. wie in der alchemie: es funktioniert, indem ein klumpen lehm oder ein stein in etwas ganz anderes verwandelt wird. die zugrundeliegende prämisse beruft sich auf den alten sinnspruch: zuerst zählt das materielle („matter matters most“). in unserem virtuellen digitalen zeitalter bleibt die skulptur eine entscheidende möglichkeit, die welt, die wir gemacht haben, und die erde, aus der wir sie gemacht haben, zu hinterfragen.

antony gormley, in: ders. & martin gayford, shaping the world. sculpture from prehistory to now, london/new york: thames & hudson 2020, s. 6

nicht von ungefähr sieht der renommierte britische bildhauer antony gormley die ursprünge der skulptur in frühgeschichtlichen gemeinschaften, als die menschen einen klumpen lehm rundum von hand zu hand weitergaben, ihm derart eine form gaben und zugleich sich mit der natur in körperlicher weise verbanden. kunst bedeutet immer verwandlung, oft im philosophischen oder gar transzendentalen sinne. eine bestimmte künstlerische technik vollzieht verwandlung vorerst aber nach rein physikalischen gesetzmässigkeiten: die kunst der keramik. diese uralte kulturtechnik entpuppt sich als äusserst anspruchsvoll in ihrer anwendung sowie herausfordernd wegen der vielen variablen faktoren. und – gerade wegen der nichtvoraussehbarkeit, beispielsweise die farbgebung durch die glasur betreffend – als künstlerisch überaus reizvoll. gormleys alchemievergleich betrifft also nicht nur die skulptur im allgemeinen, sondern bringt insbesondere die vorzüge der keramik auf den punkt. in diesen liegt sicher ein hauptgrund, weshalb sich dario cavadini entschieden hat, seine kunst in keramik umzusetzen.

cavadinis bestreben gilt der suche nach einem gültigen ausdruck für die welterfahrung und insbesondere die naturerfahrung des menschen. dabei gibt er sich nicht theoretischen und intellektuellen reflexionen hin, sein weg ist ein empirischer: wer, wenn nicht er selbst, sollte besser geeignet sein, das menschliche empfinden angesichts der natur zu erspüren, ja gleichsam zu registrieren. so begibt er sich auf „expedition“, erkundet land und landschaft, mal zu fuss, mal mit dem fahrrad, einfach in angemessenem tempo. die erinnerung bewahrt er in sich drin, sie besteht hauptsächlich aus gefühlen. als gedächtnisstützen dienen manchmal tagebuchartige notizen. den persönlichen dialog mit der natur gilt es danach künstlerisch zu vermitteln. und hier kommt die keramik ins spiel.

die vom künstler in diesem werkstoff geschaffenen skulpturen geben nicht die sichtbaren formen der natur wieder, sie sind kein abbild derselben, sondern vielmehr formgewordener ausdruck der gefühle des künstlers. dementsprechend äussern sie sich in einer mischung aus motiven mit figürlichen anspielungen und abstrakten gebilden, die entfernt an naturformen erinnern. sie muten amorph an, unfassbar, obgleich sie – materiell besehen – im keramischen brennprozess in einen überaus harten und formstabilen zustand verstetigt worden sind. dieser prozess ist wichtig, denn er beinhaltet eine umfassende transformationsleistung: vom organischen, der natur, über ihre individuelle erfahrung zum anorganischen, dem gebrannten ton. dies passiert unter einbezug sämtlicher elemente: das vorerst dank wasser formbare erdmaterial wird nach seiner gestaltung an der luft getrocknet und schlussendlich mit hilfe von feuer in den beständigen endzustand verwandelt. insofern verschmelzen in diesem prozess elementare gegensätzlichkeiten, um im zusammenspiel ein neues ganzes – das „grosse ganze“ – zu ergeben. 

analoge vorgänge laufen, wie schon angetönt, auch in übertragenem sinne ab: an der realität sich herausbildende gefühle materialisieren sich zu der neuen realität des kunstwerks. das kunstwerk thematisiert mit diesem komplexen beziehungsgeflecht fundamentale fragen des menschseins, insbesondere die art der beziehung, welche der mensch mit der welt unterhält. ob er will oder nicht, er ist teil dieser welt, und davon, von diesem einssein, handelt im kern jede skulptur von dario cavadini.

gekonnt verbindet cavadini eine uralte kulturtechnik mit errungenschaften der künstlerischen moderne. die haltung des künstlers als schamane ist neben anderen von joseph beuys gepflegt worden. dazu gehört insbesondere der bewusste umgang mit energierelevanten materialien, die symbolhaft ausdruck von erlebtem, auch von verbundenheit mit der natur sind. ausserdem weist cavadinis kunstpraxis parallelen zu surrealistischen techniken auf: das unterbewusstsein wird aktiviert, die kontrolle aufgegeben, und stattdessen kommt dem zufall eine wichtige rolle im gestaltungsprozess zu. wenn die verwendung der althergebrachten technik der keramik im kunstkontext des 21. jahrhunerts auf den ersten blick vielleicht anachronistisch anmuten mag, erweist sie sich im eben angeführten zusammenhang einer surrealistisch inspirierten welterfahrung als überaus innovativ, umso mehr als es im rückblick erstaunt, dass die surrealisten selbst für die keramik trotz derer unstreitbaren qualitäten kaum interesse aufgebracht haben.

insofern vollzieht dario cavadini mit seinen keramikarbeiten eine verneigung vor der natur und ihrer umfassenden grösse. eine verneigung in demut, aber auch eine verneigung im bewusstsein, dass es unterschiede zwischen den wesenhaften zuständen der natur und des menschen gibt. und da cavadini ein künstler ist, verneigt er sich nicht nur, sondern vermag diesen beziehungen ausdruck zu geben. seine skulpturen berühren uns, wir können sie berühren, und aus dieser begegnung gewinnen wir kraft, inspiration, nicht zuletzt auch erkenntnis.



peter fischer, kunsthistoriker, literatur- und musikwissenschaftler, 1995–2001 kurator der daros collection, 2001–2011 direktor des kunstmuseums luzern, 2011–2016 direktor des zentrum paul klee in bern, arbeitet heute als freier kurator und mitinitiant des netzwerks „die zukunft kuratieren“. www.p-fischer.ch, www.diezukunftkuratieren.ch